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Wilhelm Kamlah: Leben und Werknach: Peter Mösgen: Ars vitae – ars moriendi. Zur Anthropologie Wilhelm Kamlahs, Eichstätt 1997, S. 105 ff.Biographie · Literatur zur Biographie · Bibliographie BiographieWilhelm Kamlah stammt aus dem sachsen-anhaltischen Hohendorf an der Bode im Kreis Bernburg am Rande des Harz. Er wird am 3. September 1905 geboren und wächst in Harsleben bei Halberstadt auf. Sein Vater, der evangelische Pfarrer Wilhelm Kamlah, schickt ihn aufs Domgymnasium nach Halberstadt. Nach dem Abitur studiert Kamlah Musikwissenschaft, Geschichte, Theologie und Philosophie vorwiegend in Göttingen, aber auch in Tübingen, Heidelberg und Marburg. Zu seinen theologischen Lehrern zählt Rudolf Bultmann; Philosophie hört Kamlah bei Martin Heidegger. Nach dem Staatsexamen 1930 wird er im folgenden Jahr zum Dr. phil. promoviert. In seiner Dissertation beim Historiker Percy Ernst Schramm untersucht Kamlah frühmittelalterliche Kommentare zur Johannesapokalypse. Ein Jahr danach beginnt seine erste Lehrtätigkeit als Assistent am Historischen Seminar in Göttingen. Im selben Jahr heiratet er Kläre Nohl. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Andreas, Regine und Ruprecht.1934 schließen die Nationalsozialisten Kamlah wegen „jüdischer Versippung“ vom akademischen Lehrdienst aus. Daraufhin verlegt er sein Betätigungsfeld in den musischen Bereich. Als führendes Mitglied der „Sing-Bewegung“ hatte er bereits 1926 den „Heinrich-Schütz-Kreis – Motettenchor deutscher Studenten“ gegründet. Mit seinem Chor unternimmt Kamlah Konzertreisen quer durch Deutschland sowie nach Ostpreußen und Siebenbürgen. Er verfasst mehrere Neuausgaben von Schütz-Motetten, der Lukas- und Johannes-Passion sowie der „Geistlichen Chormusik“ von 1648. Kamlah gilt als der bedeutendste Wiederentdecker des Werkes von Heinrich Schütz für die musikalische Praxis im 20. Jahrhundert. Zugleich beschäftigt er sich als Privatgelehrter mit der Erforschung der Einigung von Vernunft und Glaube im frühen Christentum insbesondere bei Augustinus. Es entsteht das Buch „Christentum und Selbstbehauptung“, in dem Kamlah die Bultmann-These der Entmythologisierung bereits vorwegnimmt. „Kamlah hat gründlicher als Bultmann durchdacht, dass die christliche Seelsorge in unserer Zeit zu einer profanen Seelsorge werden muss, zu einer Lebenshilfe, die sich nicht auf die mythische Autorität von Überlieferungen stützt, sondern die hier und jetzt ihre Ratschläge zur Lebensführung vor der kritischen Vernunft aller Beteiligten rechtfertigen können muss“, so der Erlanger Philosoph Paul Lorenzen. Mit Kriegsbeginn wird Kamlah zum Wehrdienst einberufen. So muss er die erste Auflage des Werkes Weihnachten 1939/40 unfertig abschließen. 1943 wird Kamlah bei Orel in Russland schwer verwundet. Er verliert die Fähigkeit, instrumental zu musizieren und wird nach zahlreichen Operationen erst bei Kriegsende aus dem Lazarett entlassen. 1945 nimmt er seine Lehrtätigkeit in Göttingen wieder auf, diesmal als Universitätsprivatdozent für Philosophie. Günther Bornkamm, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker unterstützen Kamlah bei der Rückkehr in den Universitätsbetrieb. In Göttingen vollendet Kamlah 1949 seine erste Anthropologie. Im folgenden Jahr wird er außerplanmäßiger Professor. Als Habilitationsschrift für Philosophie veröffentlicht er sein nun fertig gestelltes Augustinusbuch. 1951 erhält Kamlah eine außerordentliche Professur an der Technischen Hochschule Hannover, wo er ein Jahr später zum ersten Mal seinem späteren Mitstreiter und Freund Paul Lorenzen (1915 – 1994) begegnet. 1954 wird Kamlah als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Philosophie an die Universität Erlangen berufen. Dort wird er Vorsteher des Philosophischen Seminars. Zu diesem Zeitpunkt hat er die kritische Auseinandersetzung mit Heidegger und die Hinwendung zur modernen Wissenschaftstheorie schon vollzogen. Der Musik bleibt Kamlah unverändert verbunden. So wie er in Göttingen 1946 den „Akademischen A-capella-Chor“ ins Leben gerufen hatte, gründet er 1958 den Erlanger Chor „Collegium Cantorum“, den er zugleich auch leitet. „Wilhelm Kamlah war kein einfacher Mensch, und er war kein bequemer Lehrer ... Der große Auftritt, die Arroganz des Systems waren nicht sein Stil, Vorlesungen nicht die Form der Darstellung, die er liebte. Er suchte das Gespräch, den unmittelbaren Kontakt. Kamlah war ein Mann, der es als natürlich ansah, dass man in seinem Seminar und in seinem Chor arbeitete ...“, erinnert sich Jürgen Mittelstraß an seinen Lehrer. Schon 1935 hatte sich Kamlah zusammen mit Gerhard Krüger zum Grundsatz gemacht, nicht mehr in der anspruchsvollen Sprache Heideggers zu reden und zu schreiben, sondern „so einfach wie möglich“. Voraussetzung dafür sei jedoch, den verloren gegangene Kontakt der Philosophie in Deutschland mit der Logik wiederherzustellen. Auf Wunsch Kamlahs wird ein zweiter philosophischer Lehrstuhl in Erlangen eingerichtet und 1962 mit dem Mathematiker und Logiker Paul Lorenzen besetzt, der, wie Lorenzen selbst sagt, „aus dem einzigen Grunde, um mit Kamlah zusammenarbeiten zu können“, nach Erlangen kommt. Aus den philosophischen Diskursen zwischen Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, zu denen Jürgen Mittelstraß und Kuno Lorenz als Assistenten sowie Peter Janich als Student hinzustoßen, entsteht die „Erlanger Schule“ innerhalb der konstruktiven Wissenschaftstheorie, die mit der Berufung von Mittelstraß und Janich nach Konstanz ihre Fortsetzung in der „Konstanzer Schule“ findet. Später gehören auch Christian Thiel, Oswald Schwemmer und Hans Julius Schneider zum Kreis der Diskutanten. Gemeinsam mit Lorenzen schreibt Kamlah in dieser Zeit eine „Vorschule des vernünftigen Redens“, die 1967 unter dem Titel „Logische Propädeutik“ erscheint und zum Standardwerk avanciert. 1970 emeritiert Kamlah vorzeitig auf eigenen Wunsch. Er will ein altes Thema wieder aufgreifen und eine zweite Anthropologie schreiben, in der er, wie er sagt, den Ertrag seiner Lebensarbeit zusammenfasst. Sie ist nicht nur eine Fortsetzung der logischen Propädeutik, sondern auch eine Neuauflage seiner „vorkritischen“ Schrift aus dem Jahr 1949, die Kamlah eher der Literatur als der strengen Philosophie zuordnet. Im Wesentlichen geht es Kamlah darum, die Ruhe der Vernunft als Ziel jeder Seelsorge darzustellen. Verlass sei einzig auf die Vernunft. Durch Aufklärung im besten Sinne sind nach Kamlah zwar keine realen Verhältnisse geändert, aber es ist alles verwirklicht, was unter gegebenen Umständen durch Denken zu erreichen ist. Lorenzen: „Kamlah war ein Philosoph – und er war nach meiner Kenntnis der einzige Philosoph unter den Philosophieprofessoren –, weil er uns diese profane Seelsorge, den Menschen unter den gegebenen Verhältnissen zur Ruhe der Vernunft zu führen, in Rat und Tat vorgelebt hat.“ Das von Kamlah aufgeworfene Problem des „Leben-Könnens“ thematisiert auch der Roman „Sie verschwanden im erleuchteten Torbogen“, Olten 1982, der promovierten Philosophin und Journalistin Karin Lindemann, der die Biographie Kamlahs zur Grundlage hat. 1973 beschäftigt sich Kamlah auf Anregung von Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) in einem Aufsatz über „Die Doppelseitigkeit der Problematik des Paragraphen 218“ mit dem Anfang des Lebens. Die Schrift wird für die Mitglieder des Bundestags-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vervielfältigt. In seinen letzten Veröffentlichungen konzentriert sich Kamlah – wie bereits im Schlusskapitel seiner Anthropologie – auf Fragen um das Ende des Lebens. Ostern 1976 erscheinen in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) seine „Passionsbetrachtungen eines Philosophen“ unter dem Titel „Kann man den Tod «verstehen»?“ Zwei Wochen vor seinem eigenen Tod veröffentlicht die NZZ eine Rezension Kamlahs zu Jean Amérys Schrift „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“, in der Kamlah das Recht auf Selbsttötung als menschliches Grundrecht definiert. Schwerkrank begeht er 71-jährig am 24. September 1976 in Erlangen Suizid. Kamlah tötet sich nicht in Panik; allerdings findet er möglicherweise auch nicht die Gelassenheit, die er sich theoretisch gewünscht hat. Kurz vor seinem Suizid trifft Kamlah noch Verabredungen, tötet sich dann aber nach einigen Vorkehrungen, die seine Anghörigen schonen sollen. Er wird am 29. September auf dem Neustädter Friedhof in Erlangen beigesetzt. Die Festschrift „Wilhelm Kamlah zum 70. Geburtstag“ wird seinem Andenken gewidmet. |
Literatur zur BiographieKamlahArtikel in: Brockhaus Enzyklopädie, Band 11, 19. Auflage, Mannheim 1990, S. 385
Kamlah
Kamlah
Kamlah
König, Eckard
König, Eckard
Kößler, Henning
Mittelstraß, Jürgen
Reden zum Tode von Wilhelm Kamlah
Todesanzeige
Wilhelm Kamlah BibliographieNicht aufgeführt werden Rezensionen, musikwissenschaftliche Titel und Musikeditionen sowie außerwissenschaftliche Veröffentlichungen.1933 bis 1953 · 1954 bis 1966 · 1967 bis 1976 1933 bis 1953Der Ludus de Antichristo,in: Historische Vierteljahrschrift 28 (1933/34), S. 53 – 87 Staatsexamensarbeit von 1929/30. Nachdruck in: Karl Langosch (Hg.): Mittellateinische Dichtung. Ausgewählte Beiträge zu ihrer Erforschung, Wege der Forschung 149, Darmstadt 1969, S. 343 – 381
Apokalypse und Geschichtstheologie.
Ecclesia und regnum Dei bei Augustin
Christentum und Selbstbehauptung.
Probleme der Anthropologie.
Die Profanisierung der Musik,
Die Wurzeln der neuzeitlichen Wissenschaft und Profanität,
Der Mensch in der Profanität.
Sokrates und die Paideia,
Die Theologie und das „griechische Denken“.
Christentum und Geschichtlichkeit.
Einsamkeit und Vernunft.
Die Verlegenheit dieser Zeit.
Wozu eigentlich Philosophie? 1954 bis 1966Gibt es wirklich „die Entscheidung zwischen geschichtlichem und metaphysischem Denken“?Anmerkungen zur Friedrich Gogarten, Entmythologisierung und Kirche, in: Evangelische Theologie 14 (1954), S. 171 – 177 Ebd.: Friedrich Gogarten: Zur Frage nach dem Ursprung des geschichtlichen Denkens. Eine Antwort an Wilhelm Kamlah, S. 226 – 240
Martin Heidegger und die Technik.
Der Ruf des Steuermanns.
Fragt die Wissenschaft noch nach der Wahrheit?
Verblendung inmitten der Welt des Wissens,
Entdecken und Beweisen in der Mathematik.
Geschichte im Zerrspiegel.
„Zeitalter“ überhaupt, „Neuzeit“
und „Frühneuzeit“,
„Oui à la France“.
Die Sorge um die Autorität,
Die Frage nach dem Vaterland.
Wissenschaft – Wahrheit – Existenz,
Der Anfang der Vernunft bei Descartes.
Der Soldat und die Geschichte,
Der moderne Wahrheitsbegriff,
Probleme einer nationalen Selbstbesinnung,
Platons Selbstkritik im Sophistes,
Die Zukunft als Kategorie der Geschichte. Diskussionsbeitrag II,
Zu Platons Selbstkritik im „Sophistes“, 1967 bis 1976Aristoteles' Wissenschaft vom Seienden als Seienden und die gegenwärtige Ontologie,in: Archiv für Geschichte der Philosophie 49 (1967), S. 269 – 297 Nachdruck in: Tradition und Kritik. Festschrift zum 80. Geburtstag von Rudolf Zocher, Stuttgart 1967; Nachdruck in: Von der Sprache zur Vernunft, 1975
Logische Propädeutik.
Sprachliche Handlungsschemata,
Utopie – Eschatologie – Geschichtsteleologie.
Die praktische Grundnorm,
Philosophische Anthropologie.
Die Doppelseitigkeit der Problematik des Paragraphen 218
Die Formierung der „Geisteswissenschaften“
in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften,
Plädoyer für einen wieder eingeschränkten Gebrauch des Terminus
„Hermeneutik“,
Umgangssprache – Bildungssprache – Wissenschaftssprache,
Von der Sprache zur Vernunft.
Kann man den Tod „verstehen“?
Meditatio Mortis.
Nachdruck in: Hans Ebeling: Der Tod in der Moderne, Frankfurt, Taschenbuchausgabe, 1984, S. 210 – 225
Das Recht auf den Freitod, ein menschliches Grundrecht. |
© Peter Mösgen | 21. März 2001 |