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Natürlicher Tod und Bilanzsuiziderschienen in: Suizidprophylaxe 23 (1996), Heft 1, S. 20 f. Zu allem Leben in der Natur gehört der Tod. Daher macht es keinen Sinn, zwischen natürlichem Alterstod und unnatürlichem Unfalltod zu unterscheiden. Der „persönliche Tod“, der für den Menschen „nicht selten ... eine Katastrophe ist“(1) steht nicht im Gegensatz zum Leben, sondern im Gegensatz zum Bewußtsein. Der Mensch denkt über den Tod hinaus. Der Mensch hält im Gebet Kontakt mit dem unendlichen Gott, der wiederum in der Eucharistie und durch den Heiligen Geist in der Endlichkeit wirkt. So erfährt sich der sterbliche Mensch persönlich und in seinem Sozialvollzug umfangen von der Unsterblichkeit. Eine Selbsttötung macht nur als Opfertod Sinn. Wer sich unter anderen Umständen tötet, handelt aus einer subjektiv als Zwangslage empfundenen Situation heraus. Einen objektiv nachvollziehbaren, überlegten Bilanzsuizid gibt es nicht, auch wenn er von Versicherungen gern angenommen wird: Nach Paragraph 169 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) bleibt bei Lebensversicherungen der Leistungsanspruch nur dann bestehen, wenn der Suizid auf eine Geistesstörung zurückgeführt werden kann. Bisweilen wird der Suizid kurz und bündig als Vermeidung des natürlichen Todes beschrieben. Die Unterscheidung zwischen natürlichem und unnatürlichem Tod wird allerdings schnell fragwürdig. Warum sollen ein Verkehrsunfall, ein langsamer Krebstod oder ein Herzversagen im hohen Alter natürlicher sein, als ein Suizid? Oder ist ein Verkehrsunfall auch unnatürlich? Der Mensch unterliegt den Gesetzen der Natur. Daher ist sein Tod immer natürlich. Bedeutsam in bezug auf die Frage nach dem Tod ist daher nicht, ob er natürlich oder unnatürlich ist, sondern ob er das absolute Ende bedeutet oder in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet gedacht werden muß. Die Begriffe natürlicher und unnatürlicher Tod sind Leerformeln. „Polemisch ist die Formel vom natürlichen Tod ... insofern, als sie eine radikale Absage an jede metaphysische Idee von Unsterblichkeit, aber auch an den christlichen Auferstehungsglauben enthält.“(2) Philosophisch sinnvoll ist jedoch die Unterscheidung zwischen selbstverschuldetem Tod und dem Tod aufgrund anderer Ursachen. Gleichgültig, ob eine philosophische Schule, eine Gesellschaft oder eine Religion die Selbsttötung verbietet oder gebietet, es wird immer eine bewußte Entscheidung des Menschen zum Suizid vorausgesetzt. Eberhard Döring spricht in einer Jean-Améry-Kritik von Bilanzsuiziden. Auch Wilhelm Kamlah denkt an einen Entschluß zur Selbsttötung nach reiflicher Überlegung und aus innerer Ruhe und Freiheit heraus. Wer sich nach reiflicher Überlegung der Umstände und der Folgen entscheidet, einen Suizid zu begehen, darf sich töten. Jugendliche dagegen neigen nach Döring dazu, Einzelereignisse überzubewerten. Mangels objektiver Urteilsfähigkeit ihrer Situation müsse ihnen die Erlaubnis zum Suizid abgesprochen werden.(3) Es erscheint allerdings äußerst fragwürdig, ob erwachsene Menschen in Krisensituationen über die Objektivität verfügen, ihre Lage korrekt einzuschätzen, wie sie beispielsweise Döring und Kamlah annehmen. Klaus Dörner betont in einem philosophischen Vortrag zum 20. Jahrestag der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS), daß er zehn Jahre zuvor über den Begriff des Bilanzsuizides froh gewesen sei. Bislang sei ihm aber noch kein einziger Fall einer Selbsttötung bekannt geworden, der als Bilanzsuizid hätte bezeichnet werden können. Dörner schließt daraus, daß es einen kalkulierten Suizid nicht gibt. Bilanzsuizide existieren nur im individuellen Empfinden von Suizidenten.(4) Albin Eser setzt das Wort Bilanzsuizid in Anführungszeichen und bezieht es auf „eine (subjektiv als negativ) empfundene Lebensbilanz“.(5) Auch Viktor Frankl plädiert dafür, die Bezeichnung Bilanzsuizid ausschließlich für die subjektive Sicht des Betroffenen zu verwenden. Ein einzelner Nachweis, daß es bei irgendeinem Suizidfall einen anderen Ausweg als die Selbsttötung gegeben habe, führe bereits zu einer allgemeinen, objektiven Aufhebung jeder Suizidberechtigung.(6) Aus psychodynamischer Sicht birgt der Begriff des Bilanzsuizides ähnliche Schwierigkeiten wie der des rationalen Suizides.(7) Klaus-Peter Jörns sieht im Bilanzsuizid eine Kreation der Umwelt eines Suizidenten, die alle Verantwortung abschütteln will. Einen Bilanzsuizid könne es auch von seinem biblisch-anthropologischen Ansatz her nicht geben. Die Ursache für alle Suizide seien zerbrochene Lebensbeziehungen. Ihr Scheitern unterliege in keinem Fall der freien Entscheidung.(8) Den Zeitpunkt und die Art seines Sterbens zu bestimmen, überfordert den Menschen. Hans-Ludwig Wedler, Christian Reimer und Manfred Wolfersdorf stellen die These auf, der Suizid sei „(fast)“(9) niemals ein Freitod. Michel Heinrich kritisiert, daß durch das Wort fast die irrige Annahme auftauche, die Möglichkeit eines Bilanzsuizides sei prinzipiell nicht auszuschließen. (10) Hanfried Helmchen sieht in akuter wie chronischer Suizidalität ausschließlich ein behandlungstechnisches Problem. Eine ethische Diskussion ergebe sich erst im Zusammenhang mit Bilanzsuizidalität, bei der zunächst geprüft werden müsse, „ob nicht doch eine psychische Erkrankung“ (11) vorliege. Sei dies nicht der Fall, reiche die Fachkompetenz des Arztes nicht aus, um an Stelle des Patienten zwischen den Werten Leben und Tod zu wählen. Helmchen übersieht, daß Suizidalität allein dadurch zum ethischen Problem wird, daß entschieden werden muß, ob der Suizid eine legitime Möglichkeit ist, eine Krisensituation zu beenden. Falsch dürfte auch sein Begriff einer Bilanzsuizidalität sein. Einen Bilanzsuizid im Sinne einer bewußten, freien und objektiv nachvollziehbaren Entscheidung zum Tod gibt es nicht. In dieser Beziehung ist die Ansicht Albert Camus', der Suizid sei eine falsche Antwort auf die Absurdität des menschlichen Daseins ebenso wirklichkeitsfremd, wie das religiöse Argument des Moraltheologen Bernhard Häring, der Suizid widerspreche einer vertrauensvollen und gläubigen Gesinnung oder das philosophische Argument Immanuel Kants, der Suizident zerstöre die Sittlichkeit. Alle Urteile dieser Art gehen fälschlicherweise davon aus, daß ein Suizident bewußt eine Grundentscheidung über Wert und Sinn seines Daseins trifft. Die Frage des Suizides hat zwar letztlich eben diese Bedeutung, tatsächlich aber spielt die Entscheidung über Leben und Tod unter den Motiven für Suizide keine Rolle.(12) Ein Suizid ist vielmehr ein Augenblicksentschluß, eine situative Reaktion, der in ihrer Psychodynamik eine komplizierte Verflechtung von Einzelhandlung und Persönlichkeitsstruktur zugrundeliegt. |
Anmerkungen |
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(1) | Ph. Kaiser, S. 21. |
(2) | G. Scherer, S. 20. |
(3) | Vgl. E. Döring, S. 230 f. |
(4) | Vgl. K. Dörner, S. 7. |
(5) | A. Eser, S. 6. |
(6) | Vgl. V. Frankl, S. 66. |
(7) | Vgl. E. Etzersdorfer, S. 95. |
(8) | Vgl. K.-P. Jörns, S. 38 f. |
(9) | H.-L. Wedler/Chr. Reimer/M. Wolfersdorf, S. 405. |
(10) | Vgl. M. Heinrich, S. 35. |
(11) | H. Helmchen S. 327. |
(12) | Vgl. Ch. Angermann/H. Doll, S. 159. |
Literatur
Angermann, Christoph; Hans Doll
Döring, Eberhard
Dörner, Klaus
Eser, Albin
Etzersdorfer, Elmar
Frankl, Viktor Emil
Heinrich, Michel
Helmchen, Hanfried
Jörns, Klaus-Peter
Kaiser, Philipp
Kamlah, Wilhelm
Scherer, Georg
Wedler, Hans-Ludwig; Christian Reimer, Manfred Wolfersdorf |
© Peter Mösgen | 21. März 2001 |