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Rezension

Aebischer-Crettol, Eberhard: Seelsorge und Suizid. Seelsorge mit Hinterbliebenen, die von einem Suizid betroffen wurden, Bern u. a.: Lang 2000. 580 S. = Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, Theologie; Band 683. Kart. DM 133,-. ISBN 3-906764-27-3.

Der Verlust eines nahe stehenden Menschen geht unter die Haut. Ob eine Partnerschaft zerbricht oder ein Familienmitglied stirbt, mit dem Verlusterleben gehen Trauer, Angst und Schmerz einher. Im Netz sozialer Beziehungen, mit Unterstützung durch Familie und Freunde, wächst allmählich die Bewältigung des Leidens. Die Zeit heilt tatsächlich Wunden. Wenn man jedoch einen Menschen unter besonders dramatischen oder tragischen Umständen verliert, kann der Trauerprozess durch Schuldgefühle, Rückzug auf sich selbst und Kreisen um immer ein und dieselben Gedanken gestört oder ganz unterbrochen werden.

Stirbt ein Mensch durch eigene Hand, stehen die Hinterbliebenen zudem oft vor der drängenden Frage: Warum? Dieses Warum birgt den Verzweiflungsschrei der Sinnlosigkeit. Oft aber enthält es noch etwas anderes, die Frage nach der Schuld. „Ich sehe keinen Ausweg“, so betitelte Artur Reiner 1973 seine Dissertation. Damit hat er den Kern getroffen. Jeder Suizid geschieht subjektiv aus einer Zwangslage, auch wenn er bisweilen intellektuell als Freitod bezeichnet wird. Die Kirchen haben den Suizid über Jahrhunderte hinweg als schwere Sünde betrachtet. Heute hat sich die Wertung geändert. Verurteilt wird nicht der Suizident, verurteilt werden die Umstände und Bedingungen, die zum Suizid führen. Indirekt richtet sich damit jedoch eine Anklage gegen die Hinterbliebenen.

Wenn sich ein alter, schwer kranker Mensch nach einem erfüllten Leben tötet, nicken Außenstehende oft zustimmend: „Das war wohl das Beste.“ Tötet sich dagegen ein Jugendlicher, sind Eltern, Verwandte und Freunde oftmals der harten Frage ausgesetzt: „Wart ihr blind für die Sorgen dieses Kindes?“ Angehörige tragen in beiden Fällen die Last der Frage nach den Ursachen des Suizides. Besonders schwer wird die Situation dadurch, dass der einzige Mensch, der von der empfundenen Schuld freisprechen könnte, tot ist. Wie können Angehörige und nahe Stehende mit dem Verlust und mit vielleicht hinzukommenden Schuldgefühlen umgehen lernen? Wie kann man ihnen als Freund oder Seelsorger im Trauerprozess helfen?

Die Seelsorge mit Hinterbliebenen, die von einem Suizid betroffen wurden, hat sich Ebo Aebischer-Crettol zur Lebensaufgabe gemacht. „Warum konnten wir Dich nicht halten?“ (Carin Diodà), „Warum hast Du Dir das angetan?“ (Chris Paul) oder „Suizid: Das Trauma der Hinterbliebenen“ (Manfred Otzelberger) sind nur drei Beispiele für Titel, die in den letzten Jahren speziell zur Hinterbliebenen-Seelsorge nach einer Selbsttötung erschienen sind. Die von Aebischer-Crettol vorgelegte Dissertation ragt aus zwei Gründen unter den verschiedenen Publikationen zum Thema heraus: Zum einen betrachtet er den Suizid ganz explizit aus christlicher, biblisch begründeter Sicht und zum anderen konnte der Autor auf eine große Sammlung von Gesprächsprotokollen zurückgreifen, die er wissenschaftlich ausgewertet präsentiert. In seiner Darstellung wagt und bewältigt er die schwierige Gratwanderung zwischen persönlicher Betroffenheit des Seelsorgers und sachlicher Schilderung des Wissenschaftlers.

Da die Dissertation außerordentlich eng verknüpft ist mit der Arbeit und dem Leben des Autors, sei vor einer kurzen Inhaltsübersicht Ebo Aebischer-Crettol selbst vorgestellt: Er wurde 1936 in Sachsen geboren, floh 1951 in die Schweiz, studierte dort Chemie und leitete rund zwanzig Jahre ein eigenes klinisch-diagnostisches Labor. 1982 verkaufte Aebischer-Crettol das Labor und studierte evangelische Theologie in Bern sowie katholische Theologie in Freiburg/Schweiz. 1993 wurde er zum Pfarrer ordiniert und von der Berner Landeskirche freigestellt zur Betreuung von Hinterbliebenen, die vom Suizid eines nahe Stehenden betroffen sind. Die entsprechende Pfarrstelle wurde eingerichtet, nachdem sich Aebischer-Crettol bereit erklärt hatte, den Seelsorgeauftrag unentgeltlich zu übernehmen. Seitdem steht er Betroffenen in Langzeitbetreuung durch persönliche Gespräche und Briefkontakte bei, fördert und begleitet Selbsthilfegruppen Betroffener und bietet Kurse an.

Aebischer-Crettol ist zudem Mitglied des Seelsorgeteams um den Zürcher Pfarrer Jakob Vetsch, den Pionier der Internetseelsorge, in dessen Stab auch die Gattin des Autors, die römisch-katholische Theologin Monique Aebischer-Crettol mitarbeitet. Die Erfahrungen und Ergebnisse der Hinterbliebenen-Seelsorge stellten die Basis dar für die 1997 an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz bei Marc Donzé eingereichten zweibändigen Dissertation. Das hier besprochene Buch beinhaltet eine deutlich gekürzte Fassung des Originals.

In den ersten acht Kapiteln, die etwas mehr als die Hälfte des Buches ausmachen, beschäftigt sich Aebischer-Crettol grundsätzlich mit der Suizidproblematik aus christlicher Sicht. Dabei will er weniger das Phänomen des Suizides verstehen, als Wege des Mitgehens, Mitleidens und Leidmilderns aufzeigen. Eine moraltheologische Debatte wird bewusst ausgelassen. Dem Autor geht es darum, das Thema Suizid zu enttabuisieren, nicht aber darum, es zu beurteilen. Im Mittelpunkt des neunten, abschließenden Kapitels stehen Fallbeispiele. Die Dissertation basiert auf dem methodischen Ansatz der Korrelation: Praktisch-theologisches Handeln wird analysiert und in Korrelation zu Schrift und Tradition gebracht. Daraus erwachsen verbesserte Handlungsanweisungen, die wiederum überprüft und überarbeitet werden.

Im kurzen ersten Kapitel schlussfolgert Aebischer-Crettol: In der Bibel werde das Morden, nicht aber das Töten verboten. Selbsttötung werde als Tötung gewertet. Daher sei aus biblischer Sicht Selbsttötung erlaubt. Dass beispielsweise aus der biblischen Bezeichnung Gottes als „Herr über Leben und Tod“ (beispielsweise in 1 Sam 2, 6 oder in Deut 32, 39) ein Verbot des Selbstmordes gefolgert werden kann, wird nicht berücksichtigt. Als Beleg für die These werden im zweiten Kapitel die in der Bibel beschriebenen Suizide herangezogen. Gegenüber anderen Sammlungen bezieht der Autor Suiziddarstellungen aus dem apokryphen vierten Makkabäerbuch mit ein. Aus dem Neuen Testament werden neben der Selbsttötung des Judas auch die psychischen Suizide (Voodo-Tode) von Hananias und Saphira berücksichtigt. Einfühlsam ergänzt wird das Kapitel um die Beschreibung von Todessehnsucht in der Bibel.

In Kurzfassung bietet das dritte Kapitel Erklärungsmodelle für Selbsttötungen. Die knappe Darstellung führt zu kleineren Ungenauigkeiten: Beispielsweise wird der Begriff des Bilanzsuizides etwas zu eng lediglich als bewusste Selbsttötung infolge körperlicher Erkrankung eingeführt; dass der Begriff aus psychodynamischer Sicht durchaus problematisch ist, wird nicht diskutiert. Die Folgerung auf der Basis statistischer Daten, es könne eine genetische Disposition für Suizidalität geben, dürfte auf Grund der unterschiedlichen Erfassungspraktiken der einzelnen Länder weniger haltbar sein. Der Zusammenhang zwischen Hirnstoffwechsel und psychischen Störungen wird im vierten Kapitel erwähnt, aber trotz der biochemischen Kenntnisse des Autors fast zu kurz ausgeführt.

Zum eigentlichen Anliegen des Buches zurückkehrend werden im fünften Kapitel Berufe, die mit Verstorbenen zu tun haben, beschrieben, es folgt im sechsten Kapitel eine Darstellung von Trauerverarbeitung als Prozessgeschehen: Schock, Verleugnen, Wut, Klagen, Angst, Schuld, Hilflosigkeit, Abschiednehmen, Weinen, Beten. In vorbildlicher Weise verbindet der Autor hier biblische Grundlegung, psychologisches Wissen und seelsorgliche Erfahrung zu einer Einheit. Im siebten Kapitel „Trost und Trösten als pastorale Aufgabe“ führt der Autor exegetisch fundiert in Trauerarbeit und Trauerbewältigung ein. Das allgemein gehaltene achte Kapitel „Seelsorge und Suizid“ enthält ein einziges Unterkapitel „Seelsorge, Suizid, Computer und Internet“, das angesichts der Erfahrung des Autors als Internetseelsorger ausführlicher und visionärer hätte ausfallen können. Das folgende neunte Kapitel enthält auf rund 200 Seiten einen wertvollen Erfahrungsschatz in Form von Gesprächsprotokollen über Begegnungen mit Hinterbliebenen, die dankenswerterweise der Veröffentlichung der teilweise tief in die Privatsphäre gehenden Schilderungen zugestimmt haben.

Insgesamt betrachtet bietet „Seelsorge und Suizid“ zwar weder in den exegetischen Teilen noch in der sonstigen Betrachtung der Suizidproblematik viel Neues. Außergewöhnlich an diesem Buch ist dagegen eines: Dem Autor gelingt es überzeugend, theoretisches Wissen und reiche seelsorgerische Erfahrung zu einem Ganzen zu verschmelzen, sich dem Tabu Suizid eines nahe Stehenden behutsam entgegenzustellen und Wege des Verständnisses und der Hilfe für Hinterbliebene aufzuzeigen.

Nicht unerwähnt bleiben darf zum Schluss, dass unter dem Titel „Aus zwei Booten wird ein Floß“ (Zürich 2000) eine exzellent verdichtete Fassung der Dissertation erschienen ist, ergänzt um einen Service-Anhang mit Adressen und kommentierter Literatur. Dem Leser, der auf allzu umfangreichen theoretischen Ballast verzichten möchte und der ein rundum gelungenes seelsorglich ausgerichtetes Werk zum Thema sucht, sei diese Version ausdrücklich empfohlen.

Eichstätt, Peter Mösgen

Theologische Literaturzeitung 126 (2001) 6, Sp. 669 ff.

 © Peter Mösgen Peter Mösgen 2. Juli 2001